Oha, sowas sind wir an dieser Stelle ja gar nicht gewohnt! Progressive Rock? Von 1969? Hier? Wirklich?
Praktisch wie die Jungfrau zum Kinde kam ich dazu, als ich heimlich ein Profil auf Tinder eröffnete ich mir nach einer Weile mal wieder dieses großartige Stück zu Gemüte führte und jemand in den Kommentaren In the Court of the Crimson King von, äh, King Crimson als nächste Station des Einstiegs in den Prog Rock empfahl. Ich muss in Experimientierlaune gewesen sein, denn statt weiter zu scrollen internetsuchte ich den Titel und zumindest das Cover kam mir bekannt vor. Da ich sonst äußerst wenig Expertise zu diesem Genre oder überhaupt Musik aus dieser Zeit, abgesehen von Teleshopping-Werbesendungen zu CD-Boxen, aufweisen kann, sah ich die Gelegenheit gekommen eine Bildungslücke zu schließen. Daher kann ich zum weiteren Kontext auch nur Aussagen vielfacher Stimmen des Internets wiedergeben, welche der Meinung sind, hier handele es sich um ein bedeutendes Werk dieses Genres. Das will ich mal so glauben.
Wir haben es hier also mit einem Langspieler von etwa 44 Minuten zu tun, die sich auf fünf Stücke aufteilen. Ich weiß nicht ob mir die heute gängige oder von Kennern abgelehnte Fassung vorliegt, mein CD-Exemplar habe ich gebraucht erstanden und dabei handelt es sich um die Remastered-Pressung von 1989. Laut Wikipedia gab es danach noch einige weitere Überarbeitungen, mir erschien diese hier jedoch gut genug um nicht weiter in den Kaninchenbau hinabsteigen zu müssen; rein subjektiv klingt meine selbstgerippte Variante wie die auf Youtube Music verfügbare Version. Hören wir doch einfach mal ganz naiv rein:
- 21st Century Schizoid Man: Wie gesagt, ich bewege mich hier völlig außerhalb meiner Komfortzone (Wo sind meine Growls und Blastbeats?), aber dieser leichtfüßig-jazzige Auftritt klingt für mich überraschenderweise modern und kein Bisschen ausgetreten.
- I Talk to the Wind: Klanglich bewegen wir uns hier schon näher an meinen Erfahrungen besagter TV-Werbesendung. Stellt sich raus: Flöten sind eigentlich auch ganz cool. Dennoch würde ich diesen Titel ehrlicherweise wohl selten gezielt anspulen, beim Durchhören aber auch nicht überspringen. Er plätschert halt so vor sich hin, was für sich dann doch wieder eine Qualität darstellt.
- Epitaph: Die düstere Stimmung spricht mich wieder etwas mehr an, die Hauptattraktion ist hier aus meiner Sicht eindeutig die gesangliche Darbietung. Ich weiß nicht ob es nur an der Stimme Greg Lakes oder auch an den technischen Begebenheiten einer inzwischen über fünfzig Jahre alten Aufnahme liegt, auf jeden Fall drückt sie bei mir die richtigen Knöpfe.
- Moonchild: Die ersten zweieinhalb Minuten sind oddly captivating, wie man auf Neudeutsch so sagt. Die anderen fast zehn dagegen… auch irgendwie. Weniger Musik als atmosphärische Improvisation, zumindest nach meinem Verständnis. Lief in weiten Teilen beim Verfassen dieses Beitrags im Hintergrund, also in gewisser Weise vielleicht auch eine Art Vorläufer zu den Lofi Beats to Relax/Study to?
- The Court of the Crimson King: Vermutlich tue ich kulturloser Bauer dem Rest fürchterliches Unrecht, aber wegen diesem Song sind wir eigentlich hier. Was zum Teufel, hier stimmt alles und vielleicht habe ich dieses Ding über Wochen in Dauerschleife gehört. Als jemand, der über das musikalische Handwerk nicht viel weiß und Musik hauptsächlich aus rein durch Stimmung eingefärbten Standpunkten betrachtet, finde ich hier in und zwischen jeder Strophe Highlights, zu denen ich immer ein paar Sekunden zurückspringen kann. Seien es die instrumentellen Übergänge, die pointierte Intonation des Gesangs oder der Text an sich, hier bin ich völlig zufrieden. Definitiv ein Kandidat für eine hohe Platzierung auf meiner persönlichen Hitliste.
Unterm Strich
Bei einem Album dieses Standes und Alters hätte ich erwartet, dass sämtliche Überrasschungen bereits durch kulturelle Referenzen und Zitate in späteren Werken vorweg genommen wurden. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass mir das darauf folgende halbe Jahrhundert Entwicklung in diesem Genre (bisher?) nicht weiter bekannt ist oder dass Einflüsse gerade auf meine bis dato präferierten Subgenres des Metals eher in homöpathischen Dosen Wirkung entfalteten, wenn überhaupt. Während die wenigen etwa gleichalten Songs, die ich so kenne, musikalisch verglichen mit (meinen) heutigen Hörgewohnheiten eher simpel konstruiert, repetitiv und damit einhergehend oft auch sehr kurz daherkommen, entspricht In the Court of the Crimson King diesen Gewohnheiten verblüffend genau. Irgendwie progressive eben.
Am Ende, und das ist für diese Betrachtung das Wichtigste, passt die Platte bei meinem Erfahrungshorizont wunderbar ins Jahr 2023, was eigentlich auch alles über deren Qualität aussagt. Daumen hoch, gerne wieder.