Nachdem zwischen Liebe ist für alle da (2009) und dem unbetitelten Album von 2019 zehn Jahre lagen, haben sich Rammstein für ihre kürzlich veröffentlichte neue Platte Zeit (erschienen am 29. April 2022) nicht so viel ebendieser gelassen. Gehen wir die elf Songs doch mal durch:
- Armee der Tristen ist wie eine Schablone, die auf alles passt und aus jeder Perspektive mit den jeweiligen Gegnern gefüllt werden kann. Fast schon merkwürdig aalglatt. Kann man machen.
- Zeit: Vorab zufällig etwa zum Beginn des Ukrainekrieges veröffentlicht, entfaltete es insbesondere mit seinem beeindruckendem Video eine merkwürdig gut passende Zeitgeistigkeit, büßt meiner Meinung nach aber ohne die visuelle Stütze einen Teil seines Reizes ein.
- Schwarz: Der Song ist okay, auch wenn es schon die dritte eher langsame Nummer in Folge ist – ich wundere mich hier bei jedme Hören über eine praktisch recycelten Zeile aus Hilf mir (Rosenrot, 2005), die dann auch noch sehr ähnlich vorgetragen wird1. In meinen Augen ein kleiner Makel an einem ansonsten sehr gut gelungenen Song.
- Giftig: Dieses Riff ist praktisch der Signature Style Rammsteins. Der erste Track, der für mich so richtig gut ins Ohr geht, auch wenn ich wünschte der Text wäre noch etwas ausgearbeiteter. Der hier ist etwas für die Dauerschleife.
- Zick Zack: Der Song über Schönheitsoperationen hat ebenfalls ein nettes Video verpasst bekommen und wäre das erste augenzwinkernde Stück des Albums ohne faden Beigeschmack, würde er nicht in einer halben Zeile Transmenschen mit krankhaften "Beauty"-Junkies in einen Topf werfen. Damit gerät das Lied unnötig ins Stolpern, was mich schon ein Wenig ärgert.
- OK: Natürlich geht's wieder nur ums eine, und zu diesem Thema hatte Rammstein schon viele gute Nummern. Diese hier ist schon mehr als okay, der Text ist witzig und der Song einprägsam.
- Meine Tränen: Noch so ein sehr bandtypisches Ding der gemächlicheren Machart, die es einem aufgrund seiner Bitterkeit eiskalt den Rücken runterlaufen lässt. Von dieser Sorte hätte ich gerne mehr gehabt.
- Angst: Wurde als drittes Lied mit einem effektvollem Video bedacht, hätte auch sehr gut auf das letzte Album gepasst, auch wenn es dort Puppe ein wenig die Schau gestohlen hätte (wer beide Songs hört weiß bestimmt warum). Für mich definitiv eines der Highlights dieser Liste.
- Dicke Titten: Manchmal darf es auch ruhig mal etwas pubertärer und dümmlich werden, ich fühlte mich stellenweise an Mach die Titten frei von den Kassierern erinnert. Eigentlich einer der ausgefallenen Stücke auf dem Album, leider kann man ihn schlecht laut aufdrehen wenn man irritierte Blicke seines Umfeldes scheut.
- Lügen: Der Text ist toll gereimt, mir fiel der unglaublich gute Einsatz von Autotune beim Gesang in diesem Song auf. Wie die Faust aufs Auge.
- Adieu: Könnte man als Abschluss einer Musikkarriere deuten, ich selbst möchte mich da nicht so festlegen. Ein okayer Rausschmeißer, haut mich aber ehrlich gesagt nicht so sehr vom Hocker und ist nicht nur als Song elf das Schlusslicht der Scheibe.
Unterm Strich
habe ich (inzwischen, siehe unten) eine gute Zeit mit diesem Langspieler, empfinde ihn insgesamt aber als eine Spur zu zahm und zahnlos. Und auch wenn ich an wenigen Stellen das Gefühl habe, dass die Texte nicht immer die Qualität früherer Werke erreichen – dafür wirken manche Reime auf mich ein wenig zu bemüht – ist das von meiner Seite aus Gejammer auf hohem Niveau.
Die Stimmung auf Zeit ist unter den anderen Rammsteinalben einzigartig. Das muss man der Band nach bald 30 Jahren Bandgeschichte lassen: Sie können immer noch eigenständige Alben mit eigener Seele raushauen. Daran scheitern sogar viele jüngere Bands.
Nachtrag vom 3. Mai: Einige Tage und Hörsessions später bin ich mit dem Album deutlich versöhnter und habe die eine oder andere zunächst von mir bemängelte Macke zu schätzen gelernt. Daher habe ich diesen Text angepasst, also nicht wundern wenn er vorher deutlich negativer daherkam.
"Denn immer wenn ich einsam bin/Zieht es mich zum Dunkel hin" versus "Immer wenn ich einsam bin/Zieht es mich zum Feuer hin" ↩