Fear Inoculum ist, wenn du das Album anwirfst und dir nach zwanzig Minuten denkst: "Hey, der Song hat ein paar richtig fette Parts, welcher ist das?" Der Zweite. DER ZWEITE. Weil keiner der sechs Haupttracks weniger als zehn Minuten Spielzeit in den Hut wirft. Es gibt offensichtlich viel aufzuholen, denn der Vorgänger 10,000 Days von 2006 ist mittlerweile selbst Teenager. Hach, sie werden so schnell groß.
Herzlich willkommen bei Tool, meine Damen und Herren.
Seit damals hat sich viel getan, und das hat man offensichtlich auch im Hause Tool (oder deren Management/Plattenfirma/wasauchimmer) vernommen, denn schon im Vorfeld der Veröffentlichung von Fear Inoculum tauchten die bisherigen Alben der Band auf den heute gängigen Streamingplattformen erstmalig auf, was ein bemerkenswerter Vorgang ist, denn bisher zeigte sich die Gruppe von solchen Diensten wenig begeistert. Nun scheint sich der Markt genügend gewandelt und sie zum Umdenken gezwungen zu haben. Dies schlägt sich auch im neuen Album unmittelbar nieder, denn die Scheibe wird primär digital vertrieben. Für Freunde der pyhsichen Datenträger gibt es bis dato nur eine limitierte Ausgabe, die zwar recht originell1, aber auch sackteuer2 daherkommt.
Außerdem unterscheidet sich die digitale von der physichen Version des Albums in ihrer Spielzeit, die mit etwa 86 zu 79 Minuten minimal länger ausfällt und dabei den Rahmen einer herkömmlichen Audio-CD sprengt. Dem Schnitt fielen zwar "nur" drei unwichtige und mehr oder weniger atmosphärische Zwischenstücke zum Opfer, aber als Kompromiss liegt der CD immerhin ein Downloadcode für die Digitalversion bei. Persönlich brauche ich diese Zwischentracks nicht, der Vollständigkeit halber beziehe ich sie in meine Betrachtung aber mit ein. Womit wir auch schon zu dem Teil kommen, für den wir alle hier sind:
Fear Inoculum wurde bereits vorab veröffentlicht und gibt mit Maynard James Keenans gefühlvollem Gesang den eher gemächlichen Ton für die restliche Platte an.
Pneuma klingt nach einem Song von Lateralus (2001) – was definitiv ein Kompliment ist, auch wenn es dann im Vergleich zugegebenermaßen nicht mein bevorzugtes Stück wäre.
Litanie contre la Peur (nur digital): Wabernde Töne, hat etwas hypnotisches, ansonsten ein typisches Zwischenspiel.
Invincible scheint unter Fans beliebt zu sein, hier glänzen alle Bandmitglieder gleichermaßen. Für meinen Geschmack über weite Strecken zwar zu zahm, aber als Gesamptpaket durchaus überzeugend.
Legion Inoculant (nur digital): Hat mehr Bezug zu seinem Nachfolgelied als es noch bei Track Nummer 3 der Fall war. Ansonsten gilt das selbe.
Descending: Dümpelt etwas herum, spannt im zweiten Drittel seine Muskeln an, inklusive Gänsehautmomenten dank Keenans Gesang, was auf diesem Album leider zu selten vorkommt.
Culling Voices: Laaaaanger Buildup, dafür sitzt der Höhepunkt umso besser.
Chocolate Chip Trip ist ein Instrumentalstück ohne Überlänge, welches mit seinem Synthesizer und Danny Careys abgefahrenem Schlagzeugspiel Spaß macht. Außerdem ist der Titel super.
7empest ruft bei mir Erinnerungen an Undertow (1993) hervor. Schlägt dem Hörer eine sich krass windende Gitarre ins Gesicht, verbeugt sich artig und verlässt die Bühne.
Mockingbeat (nur digital): Abgefahrener Vogelbeat, darauf muss man erstmal kommen.
Eigentlich wollte ich diesen Release nicht in einer Anhörung behandeln, da sich meine Einschätzung von Tool-Alben erfahrungsgemäß mit der Zeit stark wandelt. Tja, jetzt sitze ich hier und dieser Text ist fast fertig, da können wir auch noch den Sack zumachen. Vielleicht muss ich ja irgendwann mal eine Neueinschätzung nachliefern.
Unterm Strich
ist es (zumindest bisher, das mag sich ändern) nicht mein Lieblingsalbum von Tool. Für meinen Geschmack hätten die Lieder sich eher an sieben statt zehn Minuten pro Song orientieren sollen, und tendenziell ist es mir zu ruhig. Dennoch hat es seine Berechtigung und holt eine langjährige Entwicklung auf, die Tool-Fans in den vielen Jahren seit dem letzten Album auch durchgemacht haben.
Tatsächlich habe ich aber auch einen Rückschritt zu bemängeln: Vermutlich aufgrund des auf das Streaming gerichteten Augenmerks ist dieser Platte die Dynamik abhanden gekommen. Der Sound ist durchgängig sehr fett und laut, da hatte jemand beim Mix sicher Leute mit eher günstigen Kopfhörern statt teurer Soundanlagen im Blick. Abgesehen davon gibt es am Klang absolut nichts zu meckern und wir bewegen uns hier auf einem gewohnt hohen Niveau.